Leher Briet
Wann beginnt die Erinnerung?
Es ist schwer zu sagen.
Kleine Szenen tauchen auf,
wechseln sich mit Lücken ab,
werden erst später ein Ganzes.
1948
Am Abend eines grauen Novembertages kam ich im Leher Krankenhaus
in Bremerhaven zur Welt. Schon war ich ein Leher Briet. So durften sich
nur gebürtige Leher nennen.
Wir waren eine typische Nachkriegsfamilie.
Als mein Vater aus der Kriegsgefangen-
schaft kam bezog er ein möbliertes Zimmer
bei einem kinderlosen Ehepaar. Die Män-
ner verband eine ähnliche Ver-gangenheit,
beide waren vor dem Krieg zur See gefah-
ren. Die Gefangenschaft hatte meinen Va-
ter sehr zermürbt. Als er 1947 meine Mutter
kennen lernte, glaubte er nur noch sechs
Monate zu leben. Trotzdem heirateten sie
und ich ließ nicht allzu lange auf mich war-
ten.
Für uns drei war es in dem möblierten Zim-
mer in der Potsdamer Straße 57 reichlich
eng. Im Zimmer stand eine Kochplatte, das
Bad durften wir mitbenutzen. Mein Vater
hatte schnell bei den Amerikanern in der
Roter-Sand-Kaserne (heute Hotel Haven-
Hafenstraße (17. Juli 1949)
1951
Meine Erinnerungen beginnen erst richtig
mit diesem Jahr. Aus der Zeit davor sind
es nur Fetzen, Augenblicke. Nun war ich
schon so „groß“, dass ich im Innenhof der
Wohnanlage allein spielen durfte. Insge-
heim war ich natürlich unter Aufsicht mei-
ner Mutter, unserer Vermieterin (meine
Dritt-Oma) und anderer Nachbarn. Im Hof
mit dem Waschhaus gab es neben den üb-
lichen Teppichstangen, an denen die Teppi-
che ausgeklopft wurden, auch Bänke und
Spielgeräte wie Schaukel, Rundlauf, Wip-
pe. Ein Rundlauf war eine hohe Stange mit
einer Strickleiter daran. An den Querstrick-
en hielt man sich fest, rannte los und „flog“
so um die Stange herum.
25.08.1950
auf dem Jahrmarkt
(heute heißt es Freimarkt)
Ab 1951 fuhren meine Großeltern oft mit
mir mit dem Schreiberdampfer auf der We-
ser nach Brake. Sie hatten dort Gräber zu
pflegen und nahmen mich gerne mit. Ich
kann mich noch erinnern, wie sehr ich mich
vor dem „Plumpsklo“ ekelte. Auf die Be-
schreibung möchte ich allerdings verzich-
ten.
1952
kam ich in den DRK-Kindergarten am Leher
Altmarkt. Die wahrscheinlich kurze Zeit hat
keine Erinnerungen hinterlassen. Sie ka-
men erst 1953 mit der Kindergartenzeit im
Kindergarten in der Jacobistraße.
Kindergarten Jacobistraße
von hinten
Namenstafel im Kindergarten
Es begann ein abwechslungsreiches Leben
für mich. Die „Tanten“ waren nett und ich
hatte plötzlich viele Spielkameraden. Im
Flur waren lange Bretter mit
Garderobenhaken angebracht. Jedes Kind
hatte über seinem Haken ein Bild, so fand
man seinen Mantel schnell wieder. Mein
Bild fand ich besonders schön. Es war ein
Kalenderblatt, auf dem stand: „1. April“. Ich
war sehr stolz, dass ich das schon „lesen“
konnte.
Im Aufenthaltsraum stand eine Rutschbahn
aus Holz. Eines Tages, als wir gerade beim
Mittagessen saßen, kam meine Mutter. Sie
wollte mich auf der Rutsche fotografieren.
Alle Kinder guckten und ich fand das gar
nicht gut. Meine Mutter war öfters im Kin-
dergarten und fotografierte.
Bei gutem Wetter wurden im Garten Spiele
gemacht. Dabei wurde viel gesungen.
Kreistänze gefielen uns Mädchen beson-
ders, da flogen die Zöpfe nur so durch die
Gegend.
Rutsche im Kindergarten
Die Jungen maulten meistens, trotzdem mussten sie mitmachen. Die
Tanten konnten ganz schön böse werden, wenn sie nicht wollten. Spiel-
geräte gab es auf dem Gelände des Kindergartens damals noch nicht.
Ein Ball reichte zum Spielen aus.
Für „drinnen“ gab es bunte, kleine Halbkugeln, mit denen man auf dem
Tisch Muster legen konnte. Es gab Hammerspiele, die heute wieder in
Mode gekommen sind. Dazu gehörten bunte Holzplättchen in geome-
trischen Formen mit einem Loch für den Nagel. Aus diesen Formen wur-
den dann Figuren auf eine Korkplatte gelegt und festgenagelt. Mikado
und Domino waren ebenfalls beliebte Spiele. Die Kindergärtnerinnen
mussten damals viel improvisieren, um uns zu beschäftigen.
Nach dem Mittagessen war es Zeit für den Mittagschlaf. Dazu wurden
Segeltuchpritschen, die in einem Teil des Raumes an der Wand gesta-
pelt lagen, aufgestellt. Wir bekamen eine kratzige Wolldecke und sollten
schlafen, während eine der „Tanten“ aufpasste. Reden war verboten.
Aber was sollte man machen, wenn man nicht schlafen konnte? Meiner
Pritschennachbarin fehlte ebenfalls das Schlaftalent. So wurden wir
häufig beim Flüstern erwischt. Es war die einzige Situation, in der ich
Ärger bekam. Vielleicht lag es an unseren beengten Wohnverhältnis-
sen, dass ich nicht schlafen konnte.
Einmal im Jahr veranstaltete der Kindergarten ein Kinderfest in Fried-
richsruh in Langen. Damals gab es dort noch ein beliebtes Ausflugs-
lokal. Man erreichte es mit der Straßenbahnlinie 2. Das Fest war immer
besonders spannend und unsere Aufregung vorher entsprechend groß.
Wir wurden verkleidet, haben Spiele gemacht und sogar kleine Szenen
aufgeführt. Dafür wurde ich oft ausgewählt. Warum, weiß ich nicht.
1953 / 1954
gab es die zweite große Veränderung in meinem Leben, wir bekamen
eine Wohnung in der Rickmersstraße 24. Natürlich nicht gleich für uns
allein. Wir hatten das Schlafzimmer und durften die Küche mit benut-
zen. Außer uns wohnte dort noch ein Ehepaar mit ihrer Enkelin. Nach
ein paar Monaten hatten wir dann die Wohnung im 3. Stock ganz für
uns allein und ich bekam sogar ein eigenes Zimmer.
Die Wohnung hatte kein Bad, nur eine Toilette. Sie war in den l-förmi-
gen Balkon hinausgebaut und hatte den Zugang von der Küche. Ge-
waschen hat man sich in der Küche am „Gossenstein“. Es war ein
schwarz-weiß gesprenkeltes Steinbecken, in das eine weiße Emaille-
Schüssel gestellt wurde. Viele Haushaltgeräte (Eimer, Kannen usw.)
waren damals aus diesem Material. Wenn die Emaille abplatzte, kam
ein schwarzer Untergrund zum Vorschein. Dann sahen die Sachen na-
türlich nicht mehr gut aus. Deshalb war es sehr wichtig, vorsichtig damit
umzugehen. Am Samstag wurde auch ich in der berühmten Zinkbade-
wanne „gebadet“.
Im Winter war es auf der Toilette eisig kalt. Trotzdem fand ich es immer
schön, wenn das winzige Fenster mit Eisblumen verschlossen war. Auf
den Wänden saß eine dünne Eisschicht, in die konnte man mit dem
Fingernagel Muster kratzen. Toilettenpapier gab es damals noch nicht
(oder es war für uns zu teuer?), nur in Stücke geschnittene Zeitung.
Das war natürlich nicht so angenehm.
In der Küche hatten wir einen großen Herd mit Eisenringen. Mit dem
Ofen wurde geheizt, die Wäsche und das Mittagessen darauf gekocht.
Vom Balkon aus ging eine Ziehleine zum Nachbarhaus Nr. 22, einem
Eckhaus. Die Leine wurde von den Mietern der betroffenen Wohnungen
in beiden Häusern gleichzeitig benutzt, es gab aber darüber nie Streit.
In diesem Nachbarhaus befand sich das Tapetengeschäft Burghardt.
In unserem Haus war ein Fischgeschäft, „Schnau“ o.ä. hießen die Leute
(später befand sich an der Stelle ein Uhrengeschäft). Im Laden standen
viele Heringsfässer, dadurch roch es im Treppenhaus nicht gut. In den
Keller führte eine offene Holztreppe. Sie war mir immer etwas unheim-
lich, man konnte sich dahinter leicht verbergen. Meine Mutter hatte mir
einmal erzählt, dass sie als Kind in ihrem Elternhaus in der Kaiserstra-
ße (jetzt Alte Bürger) von einem Nachbarjungen immer erschreckt wur-
de, der sich unter der Treppe versteckte. Natürlich hatte ich von da an
Angst in den Keller zu gehen..
Im Keller hatten wir unser Feuerholz, Brikett und Kohlen. Auf einem gro-
ßen Klotz wurde das Holz gehackt. Ab und zu probierte ich es auch aus,
es war mir natürlich verboten worden. Zum Glück hatte ich mich dabei
nie verletzt, so wurde ich nicht erwischt. In den Kellerregalen standen
unsere Weckgläser mit eingemachtem Obst und Gemüse. Inzwischen
hatten wir auch einen Garten in der verlängerten Jahnstraße, den mein
Vater neben der Arbeit bewirtschaftete.
Unser Hof war leider kein Spielort. Ein Möbelspediteur hatte dort einen
großen Schuppen für seinen Möbelwagen. Somit war der Hof tabu, nur
die Parterrebewohner durften dort Wäsche aufhängen. Die Zufahrt zu
unserem Hof war von der Potsdamer Straße aus.
© Brigitte Bohnhorst-Simon
www.brigitte-bohnhorst.de
Potsdamer Straße 57
im Innenhof (03.10.1951)
hostel) als Heizer Arbeit gefunden. Es hieß aber auch für ihn, dass er
häufig nachts arbeiten musste. Meine Mutter musste dann bei Wind und
Wetter mit mir im Kinderwagen unterwegs sein, damit mein Vater schla-
fen konnte.